Ulf. Mehr oder minder täglich Privatkram.

Münster, 8.9.2002 - Der Mann mit dem Hammer.

Kategorie: Verausgabt

Abends zuvor

"Worauf habe ich mich da eingelassen? Bin ich wahnsinnig? Mit diesen Beinen soll ich 42,195 Kilometer laufen? Ich kann nicht einschlafen!"

Morgens

Ich wache gleich mit auf um 4:45 Uhr. Weiterschlafen? Zwecklos. Frühstück. Kurz vor sechs: SMS von einer Freundin, die Dienst hat und mich deshalb in Gedanken anfeuern muß.

Habe ich alles?

Den Champion-Chip habe ich gestern schon am Turnschuh befestigt. Und jetzt: Startnummer anheften, was warmes überziehen. Den Kuchen für meinen "Fanclub" hinstellen. Schlüssel einstecken und auf zum Hindenburgplatz. Am Steingymnasium (mittlerweile nach Gievenbeck umgezogen) "Check in",umziehen, Klamottenbeutel abgeben und Startblock anpeilen.

Vorm Start

Startnummer 35 beim 1. Münster-Marathon Am Start sind 4700 LäuferInnen. Zwar waren 5000 angemeldet, aber egal.
Was soll ich für eine Zeit versuchen? Meinen letzten 35-Kilometer-lauf hatte ich ohne Probleme in 3:16 erledigt, soll ich vier Stunden versuchen? Nee, lieber nicht, keine Experimente beim Debut. 4:15 ist da realistischer, und das wäre auch schon Spitze für den Einstieg.

Zeitplan

Neun Uhr

Oberbürgermeister Dr. Berthold Tillmann betätigt das Schießeisen. Adrenalin! Ein Ruck geht durch 4700 Menschen. Langsam kommt der Haufen in Bewegung. Bis ich über die Zeitnahmematte komme und damit aus dem Spaziergehertempo vergehen allerdings noch zwei Minuten.

Kurz hinter dem eigentlichen Start sehe ich schon meine KollegInnen stehen, die heute nicht arbeiten müssen. Sind die doch tatsächlich auf einen Sonntag so früh raus!

Ich bin richtig gerührt.

Auf der Promenade versucht mich Cpt. Night-Rappel abzulichten und hechtet sehr malerisch dazu am Feld der Läufer vorbei.

KM 5

Wir kommen an meiner Klinik vorbei. Aus der Ambulanz gucken auch welche raus und feuern mich an. Tut das gut!

Im Trott

Bei der Westfälischen Schule für Musik stehen meine Leute schon wieder. Klasse!

Mittlerweile habe ich mein Tempo. Fatal nur, daß ich erst viel später merke, daß ich viel zu schnell laufe: Ich habe die zwei Minuten Startverzögerung einzuberechnen vergessen.

Hinter der Universität (Corrensstraße, KM 10 oder so) gönne ich mir eine Pinkelpause. Die einzige übrigens- bis ca. 16:00!

KM 10

Zwischenzeitnahme (0:56:5 cool .
Wenn man über die Matte rennt, piept es ganz eklig- und das Feld ist noch recht dicht. Mir fallen fast die Ohren ab.

KM 15 (Gievenbeck)

Überall an der Strecke jubelnde und anfeuernde Menschen. Eine Stimmung, völlig unwestfälisch!

Meine damalige Sparkassenfiliale, bei meinem damaligen zu Hause um die Ecke. Hier ist der Runners Point-Remmidemmistand. Und meine Familie. Meine kleine Schwester steckt mir Futter zu. Manfred von meiner DFG-VK-Gruppe schafft es leider nicht, die Fahne rechtzeitig hochzureißen. Ich sehe ihn erst auf dem Rückweg.

KM 20

Verflixt: in meinem Schuh reibt was! Keine Blase, bitte nicht! Und schon gar nicht so früh! Dann bluten meine Füße irgendwann, und ich darf aufgeben.

An der Strecke: Matthias (Arzt auf meiner Station) mit Nachwuchs.

In Roxel werde ich von Leuten angefeuert, die ich leider nicht sehe. Krankenhaus, soviel ist klar.

KM 21,1 (Halbmarathon)

1:59:20
Jetzt habe ich auch die zwei überschüssigen Minuten bemerkt. Ich bin viel zu schnell, aber jetzt voll im Tempo drin. Da komme ich auch nicht mehr raus.

Überall stehen Kinder und strecken die Hand zum Abklatschen aus. Klasse!

KM 30 - Hammermann

Ulf nach dreißig Kilometern
(Zwischenzeit: 2:54:33)
Ich habe geglaubt, es passiert mir nicht, da ich im Training in diesem Tempo völlig problemlos 35km gelaufen bin. Aber da kommt er, pünktlich bei Kilometer dreißig: der gefürchtete "Mann mit dem Hammer". Gnade! Ich muß doch noch 12,195....

Manuela und Werner- weiterlaufen, weiterlaufen, weiterlaufen!
Aber jetzt kommen immer wieder Kinder mit Gartenschläuchen. Tut das gut!

KM 31- Angelika. Weiterlaufen...

KM 32- Ich versuche eine Gehpause zu machen. Doch da stehen meine Nachbarn: "Das ist kein Spaziergang!" Mist, weiterlaufen, weiterlaufen, weiterlaufen!

KM 33- Wieder in Gievenbeck. Ich könnte prima aussteigen, einfach aufhören und nach Hause gehen und mich hinlegen, ich hätte es ja nicht weit.

Aber: Das geht nicht. An der Strecke stehen meine Familie und Manfred (jetzt sehe ich ihn), meine Station, alle denken an mich, ich kann die nicht alle enttäuschen. Also weiter!
Ich lerne gerade, was Schmerzen sind.

Qualen

Die Kilometer werden immer länger und ich immer langsamer. Bei 34 sehe ich einen Läufer am Rand stehen und kotzen. Ich kann es nachvollziehen. Kurze Zeit später: Da liegt einer, leichenblaß und ohne Bewußtsein, und bekommt die Beine hochgehalten, Sanitäter sind unterwegs. Krankenwagen. Die Fahrer feuern uns über Lautsprecher an.

Ich sehe Lemmi und Carsten, ehemalige Mitschüler. Waren in meinem Sportkurs. Gucken etwas erstaunt. Schließlich war ich die absolute Null. Feuern mich an. Weiterlaufen, weiterlaufen, weiterlaufen!

KM 40

Nochmal meine Station. Jetzt habe ich es fast geschafft. Fast. Überall an der Strecke: "Durchhalten, Ihr schafft es!"
Weiterlaufen, weiterlaufen, weiterlaufen!

KM 41

Nicht mehr denken, nicht mehr fühlen, gar nichts mehr, nur noch durchhalten.

KM 42

Ulf Kurz vorm Ziel
Noch 195 Meter! Scheißkopsteinpflaster? Ach, auch egal. Kristina ist das letzte bekannte Gesicht vorm Ziel. Jetzt mobilisiere ich die allerletzten Kraftreserven, um meine Gesichtsmuskulatur in Lächelposition zu zwingen.

42,195

Ich hoppele ins Ziel. 4:20:46. Nehme erleichtert das Zeitnahmepiepen wahr. Es ist vorbei! Jemand hängt mir eine Medaille um und gratuliert mir. Es ist vorbei.

Danach

Durst. Trotzdem ich unterwegs getrunken habe. Mörderischer Durst. Ich bekomme mein Finisher-T-Shirt. Die Massagestelle übersehe ich. Ist auch schnurz, Hauptsache nicht mehr laufen oder stehen müssen!
Sanitäter und Notarzt versorgen ein paar Kollabierte.

Kollegin gratuliert mir. Um aus dem Zielfeld rauszukommen, muß ich über einen kniehohen Schlauch. Ich schaffe es gerade noch so eben.

Mama nimmt mich in Empfang. Nur hinsetzen. Nie wieder Marathon. Trinken. Schuhe aus. In den Lambertibrunnen steigen.

Zehn Minuten Katzenjammer, aber jetzt geht es mir besser. Das mit dem "nie wieder" überlege ich mir nochmal, eigentlich war es doch klasse.

Nie wieder?!? Vienna-City-Marathon 2003, Startnummer 617. Sag niemals nie...

Verzapft am 05. August 2010, so um 20 Uhr 53

« Voriger Artikel
Nächster Artikel»

Kommentare

Was sagt Achim dazu?

22. Dezember 2015 um 20 Uhr 38 (Permalink)

Mit gerade mal 30 den ersten Marathon? OK, gibt jüngere Erstlinge, aber damit warste doch eher jung?

Eigenen Senf dazugeben?

Es hilft, sich einen Account anzulegen und sich anständig zu betragen. Dann kannste auch kommentieren.

Kommentare können hier nur von Mitgliedern abgegeben werden