Die Leiche und ich.
Kategorie: Vergangen
Frau Müller atmete ein allerletztes Mal, dann war es still. Totenstill. Im Sinne des Wortes. Auch wenn ich weiß, daß Tote nichts mehr hören, spreche ich meist noch mit ihnen, das gehört zu meinem Ritual. So schloß ich ihr die Augen und sagte: "Tschüß, Frau Müller!" und ging ins Dienstzimmer, um meiner Stationsärztin Bescheid zu sagen. Dann rief ich in der Patientenverwaltung an, damit die Todesbescheinigung vorbereitet werden konnte, während sie die Angehörigen, die weiter entfernt lebten, informierte.
Bis die Familie eintreffen würde, hatte ich genug Zeit, um Frau Müller zurecht zu machen. Ich verschaffte mir einen Überblick: Sie lag schief im Bett, war etwas strubbelig und war noch mit Schläuchen gespickt. Nicht so schön.
"Ich mach Ihnen jetzt erstmal die Zähne rein und den Mund zu." Ich zog mir Gummihandschuhe an und entfernte erstmal etwas Schleim aus dem Mund. Die Zahnprothesen bedachte ich mit Haftcreme- wenn welche vorhanden ist, dann aus gutem Grund. Und ich finde die Tätigkeit des ständigen Zahnprothesewiederausdremrachenholens weniger erfreulich. Wir haben seit einiger Zeit schöne Kinnstützen aus Kunststoff, welche einfach zu handhaben und kaum zu sehen sind. Besser, viel besser als früher, als wir noch Mullbinden um Kopf und Kinn wickelten oder zusammengerollte Handtücher versuchten zwischen Brust und Kinn zu quetschen.
Zuerst schließe ich immer Augen und Mund, denn dann sieht die Leiche schon viel besser aus.
Dann entferne ich die Infusionsnadeln, wobei ich die Wunde mit etwas Druck verpflastere. Denn auch Tote bluten noch, und zwar nicht wenig!
"Ich nehme Ihnen jetzt mal die Decke wech und guck mal, ob in der Hose noch alles in Ordnung is." - Nach dem Tod erschlaffen die Muskeln des Menschen, so auch der Schließmuskel mit den entsprechenden Folgen. Ich ziehe ihr den Blasenkatheter aus der Harnröhre und entferne etwa eine Hand voll Kot, wasche sie "untenherum" und ziehe ihr einen frischen Netzschlüpfer samt Vorlage ("Pampers" ) an.
Jetzt sind alle Schläuche entfernt. Jetzt kanns richtig losgehen. Ich schaue in den Kleiderschrank: Das Flügelhemdchen ist zwar gemustert, sieht aber trotzdem nicht wirklich hübsch aus. Für einen dunkelgelben Jogginganzug entscheide ich mich. Der dürfte einen schönen und fröhlichen Farbakzent setzen und die Stimmung etwas enttrüben. Außerdem beziehe ich, jetzt, da alle "Kleckerfaktoren" entfernt sind, Bettdecke und Kopfkissen frisch, da sie sehr zerknautscht und fleckig sind. Das Flügelhemd auszuziehen ist kein Problem, es ist ja hinten offen.
Allerdings ist ein Joggingoberteil schon schwieriger- Frau Müller hilft nicht mehr mit und die KollegInnen sind anderweitig beschäftigt. Zuerst die Arme in die Ärmel fädeln, dann das Ding über den Kopf fummeln. Mit etwas Kraftaufwand hebe ich ihren Oberkörper, um das Oberteil zurechtzuzuppeln. Ich schwitze. Ich schwitze zwar ohnehin immer, aber Frau Müller ist nicht wirklich schlank. Aber das ist nicht das erste Mal, jeder Handgriff sitzt.
Die Hose lasse ich weg. Nicht, weil ich zu bequem bin, sondern damit Frau Doktor Beinschulte nachher besser nach den sicheren Todeszeichen, vor allem den Totenflecken, gucken kann. Die Verstorbene muß, wie üblich, mindestens zwei Stunden auf der Station verbleiben deswegen. Hätte sie gerade noch Morphin bekommen, wären es sogar vier Stunden. Scheintote kommen in der Regel schlecht an beim Bestatter
Hochziehen im Bett. Geradeziehen. Ihr Oberteil glätten. Bett geradeziehen. Schmuck entfernen- sowas wird vererbt und nicht begraben. Hände auf dem Bauch übereinanderlegen.
Der ganze Müll und alles, was nicht mehr gebraucht wird, kommt auf einen Wagen und dieser erstmal ins Bad. Die Blumen bleiben natürlich. Da Frau Müller sehr katholisch war, stelle ich ein Kruzifix auf den Nachtschrank und die Blumen dazu. In der Nachtschrankschublade finde ich einen Rosenkranz. Und da stehen noch ein paar wunderschöne Rosen- ich nehme eine davon lege sie in ihre Hände und den Rosenkranz dazu. Eine halbe Stunde habe ich vielleicht gebraucht. Nun können die Angehörigen kommen und sich verabschieden.
Dreiundsiebzig Jahre ist Frau Müller alt geworden, und die letzten beiden waren ihr durch den Krebs immer mühseliger geworden.
Die Schmerzen konnten wir ihr nehmen. Das Sterben jedoch nicht.
Verzapft am 10. April 2010, so um 17 Uhr 23
Kommentare
Was sagt Conny dazu?
11. April 2010 um 06 Uhr 46 (Permalink)
Ich finde es sehr gut, dass Du mit den Verstorbenen noch sprichst. Das ist halt nicht einfach nur eine "Arbeit".
Das mit dem Bluten habe ich auch festgestellt. Komischwerweise hatte es mich überrascht. Heute im nachhinein bin ich überrascht, dass ich überrascht war.
Was sagt Muckibine dazu?
13. April 2010 um 20 Uhr 31 (Permalink)
Für mich gehörte es auch immer dazu mit den Verstorbenen zu reden. Das machte es mir vor allem im Nachtdienst, wenn ich ganz allein im Haus war, etwas leichter....
Was sagt Ulf, der Größte, dazu?
Kommentar vom Scheff hier am 14. April 2010 um 07 Uhr 48 (Permalink)
Bin also nicht ganz alleine mit dieser Marotte.
Eine Leiche ist eben nicht nur totes Fleisch. Auch für mich nicht. Dabei bin ich überhaupt nicht spirituell. Ich weiß, daß der/die Betreffende nichts mitbekommt. Aber trotzdem...
Es hilft, sich einen Account anzulegen und sich anständig zu betragen. Dann kannste auch kommentieren.